Was von den heißen Nächten bleibt – ein Streifzug durch Kumkapi am Marmara Meer bei Tag

Die Straßenbahn spuckt Tim und mich irgendwo auf der Istanbuler Altstadthalbinsel aus. An einer Station, für die ich mich während der Fahrt spontan entschieden hatte weil die Entfernung von hier bis zum Meer auf der Karte aussah wie eine entspannte Laufdistanz. Spontan. In Istanbul unterwegs sein, bedeutet auch flexibel sein zu können. Wir wechseln die Straßenseite und laufen langsam einen steilen Berg hinab.

In einer kleinen Seitengasse beobachten wir drei Kinder und ihren Fußball, rechts springt eine Katze durch ein vergittertes Fenster auf einen Mauervorsprung. Wir laufen weiter, vorbei an zerfallenen Häusern und durch ein heruntergekommenes, uraltes Viertel, dem es gelingt, mich wieder einmal mit seinem rauen Charme zu fesseln. 30 Meter vor uns steht ein LKW, auf dessen Ladefläche 2 Männer alte Waschmaschinen und anderen Elektroschrott werfen.

Ich schaue mich um. Ob das der richtige Weg nach Kumkapi ist? Ein Besuch in Kumkapi war der einzige ‚Programmpunkt‘, den ich mir für Istanbul fest vorgenommen hatte. Kumkapi ist ein am Meer gelegener Stadtteil von Istanbul, ein uraltes Fischerdorf mit vielen kleinen Fischrestaurants und alten Kneipen. Das war alles was ich über das Viertel wusste. Ich habe noch nicht herausgefunden, ob genau diese Tatsache nun später dazu beitragen sollte, dass ich entspannt immer weiter ins Viertel hineinlief, obwohl an anderen Orten meine Alarmglocken angegangen wären. Zumal ich mit einem Kind unterwegs war. Aber ich schenkte Istanbul so etwas wie mein Urvertrauen, und wurde zum Glück nicht enttäuscht. Aber dazu später mehr.

Als wir an einem kleinen Platz mit einem Brunnen vorbeilaufen, greift Tim zu seiner Kamera und schiesst Fotos. Ich grinse in mich hinein, denn in Istanbul hat er endlich wieder die Freude daran gefunden nachdem seine kleine Nikon ewig in der Ecke lag. Aber jetzt, hier mit mir Tag und Nacht unterwegs zu sein und mich auch beim fotografieren zu beobachten, das inspiriert offenbar.

Wir schlendern fernab von jeglichem Zeitdruck und ohne Verpflichtungen weiter durch kleine Gässchen mit hübschen Häusern, die aber nicht minder verfallen aussehen. Tim fotografiert was ich fotografiere, alte Türen, alte Autos, Straßenszenen. Er möchte wissen, wo er sich hinstellen soll um ein Foto besser zu machen, ich erkläre ihm, wie er die Kamera halten muss um das Foto nicht zu verwackeln.

Plötzlich höre ich hinter mir die Stimmen einiger Deutscher. Touristen kann ich an diesem Morgen an einer Hand abzählen, viele treffen wir nicht. Ich bin mir nicht zu doof spontan ’nach dem Weg zum Meer zu fragen‘ da ich das Gefühl habe, nie weiter entfernt gewesen zu sein.

„Um die Ecke rechts und unter der Eisenbahnbrücke durch“ so die Antwort. „Danke.“

Dann sehen wir sie. Eine Eisenbahnunterführung, an deren Existenz ich nicht geglaubt hätte. Während ich mir vorstelle, was passiert wenn ein Zug kommt, donnert er schon über uns. Ich fahre innerlich zusammen. Schon ist er vorbei. Erst jetzt nehme ich die dicken Stromleitungen wahr, die lose an der Wand baumeln.

Wir überqueren die Hauptstraße und laufen direkt auf das Marmara Meer zu. Der Himmel ist grau in grau, aber vor uns liegen riesige Tanker und Fischerboote. Unsere Welt ist an diesem Sonntag Mittag in Ordnung. Familien bereiten auf einer Wiese ein Picknick vor. Dazu haben sie alte Zeitungen, Holzscheite und einen kleinen Grill mitgebracht.

Tim hat nur Augen für einen alten Mann, der seinen schwer beladenen Holzkarren auf der kleinen Promenade entlang schiebt, die eigentlich nur eine einfache Mauer ist. Aber am Wochenende gerne zum Flanieren dient. Bei dem alten Mann kaufen wir eines dieser herrlich einfachen und leckeren Brötchen, wenige Meter weiter lasse ich mir aus dem Kofferraum eines alten Autos einen frisch aufgeschütteten Nescafé einschenken. Wir nehmen auf zwei kleinen, grauen Plastikstühlen Platz, blicken auf das Meer hinaus und sehen dem bunten Treiben zu.

Rechts sehen wir den Hafen von Kumkapi, links nur das schier endlose Meer und die einfache Promenade mit ihren vielen kleinen Ständen. Niemand drängt uns, etwas zu kaufen. Unten, auf den riesigen Steinen direkt am Wasser, hat jemand viele bunte Luftballons an einer Leine aufgehangen, ich erkenne viele Dosen und Flaschen. Eine Feier? Ohne Gäste? Erst auf den zweiten Blick verstehe ich.

Wir hören den Schüssen zu, Glasflaschen zerspringen, Scherben klirren, und laufen weiter in Richtung Hafen. Kleine und größere Fischerboote fahren raus, Männer plaudern, andere nehmen ein altes Boot auseinander, ein Fischer wirft Reste des letzten Fangs auf die Steine. Binnen Sekunden hat er unzählige der streunenden Katzen und Möwen um sich. Die kleinen Restaurants, von denen man beim essen das Treiben im Hafen im Blick hat, lassen wir erst einmal aus. Entdecken stattdessen die eigentlichen Eingänge der Lädchen, vor denen eine lange Reihe Fischverkäufer ihre Waren anbieten. Fische und Muscheln, die sich noch bis vor wenigen Stunden oder Minuten nur ein paar hundert Meter weiter im Meer befanden und jetzt vom Fischstand des Verkäufers wieder nur 1-2 Meter weiter in den Restaurants zubereitet werden.

Tim beobachtet fasziniert das Geschehen um ihn herum. Schaut ihn zahlreiche Eimer hinein, fragt viele Fragen. Ich bekomme den Eindruck, die Größe der gefangenen Fische ist entscheidend für das Ansehen der Fischer. Einige wuchtige Exemplare werden wie Trophäen aufgebahrt. Und stolz sind sie natürlich auch auf ihre Fänge. Dem Foto mit Fischer und Kind kann ich mich nicht entziehen, das wäre unhöflich gewesen.

Wir kehren nun doch ein und suchen uns einen gemütlichen Platz an einem Fenster zum Hafen.

Während ich nun glaubte, das Herz von Kumkapi gesehen zu haben, werde ich eines besseren belehrt. Wir überquerten wieder eine große Kreuzung und standen in einem ganz anderen Kumkapi. Ich sah das Kumkapi, das für seine ‚Heißen Nächte‘ bekannt ist, bunte Lampions über uns, unzählige zu dieser Tageszeit leere Restaurants, fein gedeckte Tische. Ich kann nur ahnen, was hier abends und nachts los sein muss wenn die Touristen da sind. Kumkapi bei Tag zu erleben, so wie wir, mit Sicherheit eher ungewöhnlich.

Ein sehr schöner Artikel im Tagesspiegel, den ich euch wirklich sehr ans Herz legen möchte, schreibt über Kumkapi:

„Weithin berühmt für solche Nächte ist Kumkapi. Doch erst bei Tageslicht wird hinter der Karnevalsmaske das wahre Antlitz dieses historischen Stadtviertels sichtbar. Verlebt und erschöpft ist dieses Gesicht, gezeichnet von Tragik, Leiden und Verzweiflung, aber auch milde und gütig.“

Eine Karnevalsmaske. Erst als ich Istanbul längst wieder verlassen habe, stoße ich auf diesen Artikel, der mir auch erzählt, Kumkapi sei einer der ärmsten Stadtteile Istanbuls. Wer kann, habe den Ort längst verlassen.

„Die einst so eleganten Bürgerhäuser der Armenier und Griechen sind heute so verfallen, dass die kunstvoll verzierten Erker auf die Gassen zu stürzen drohen. In jedem zugigen Zimmer der verwahrlosten Häuser wohnen bis zu zehn Zuwanderer aus aller Welt: kurdische Kriegsflüchtlinge; Arbeitsmigranten aus Armenien, die mit den türkischen Armeniern nichts zu tun haben; Flüchtlinge aus Afghanistan, Iran und Irak, aus Sudan, Somalia und Kongo; Arbeitssuchende aus Senegal und aus Tadschikistan und viele andere Menschen, die von der Verzweiflung hier in Kumkapi angespült worden sind.“

Die Stadtverwaltung wolle im Zuge der Stadterneuerung von Istanbul auch Kumkapi sanieren aufgrund der Gefahr durch „Feuer, Erdbeben und Seuchen“.

Das alles wusste ich nicht, als ich durch die Straßen des Viertels lief, immer weiter hinein. Je tiefer ich eindrang, desto verfallener die Häuser. Fotografiert habe ich nicht sehr, es fühlte sich einfach nicht gut an. Wachsamer wurde ich, als ein Mann Tim eine Katze auf den Arm drückte, damit er sie streicheln kann und ich gleichzeitig von oben Pfiffe hörte. Ich sah hoch. Alle Fenster des Gebäudes waren vergittert, davor eine Polizeiabsperrung, ein Mann mit Maschinengewehr. Durch die Gitterstäbe lugten Menschen, ich erkannte hier und da Gesichter. Ein Gefängnis! Ein Gefängnis inmitten des Vergnügungsviertels! Das war der Moment, ab dem ich begann, meine Umgebung etwas aufmerksamer wahrzunehmen als zuvor.

Wir liefen weiter ins Viertel hinein, allerdings mit dem festen Ziel, die Orientierung nicht zu verlieren. Das gelang mir nicht. Plötzlich war die Straße zu, und ich sah überall nur noch Menschen. Menschen in Hauseingängen. Telefonierende Menschen in Hauseingängen. Wir hatten die Straße der Läden erreicht, die billige Auslandsgespräche anboten.

Ich begann, hier raus zu wollen. Verlief mich weiter. Hielt ein Taxi an, das mich nicht mit nahm – das Ziel, das ich genannt hatte, war offenbar nicht weit genug als dass es sich für ihn gelohnt hätte zu fahren. Beim dritten Versuch klappte es, wir stiegen ein.

Eines habe ich bei meinen Städtetrips mit den Kids gelernt: gebe niemals zu, dass du dich verlaufen hast und zeige nie dein Unwohlsein. Sie spüren das sofort und verlieren die Ruhe. Ich versuche mich stets daran zu halten.

18 Kommentare

  1. Sarah

    Spannend – und auch ein bisschen nervenaufreibend, allein beim Lesen. Ich hab zwar (noch) keine Kids, kann mir aber vorstellen wie sich das für dich angefühlt haben muss. Danke für die tollen Fotos vom „anderen“ Istanbul! Ich hoffe auf noch mehr 🙂

    1. Heike

      @Sarah – In die Kategorie ‚Reisen mit Kindern‘ passt dieser Post auch nur für mich, für die meisten wohl eher nicht. 😉 Kumkapi ist ein extrem spannender Stadtteil, noch spannender wenn ich mich hätte unterhalten können. Mehr Istanbul folgt beizeiten…

  2. Dani

    Lebhaft, strudelig und so voller Leben. Dein Bericht erinnert mich sehr an Luxor, wo es auch an jeder Ecke etwas einheimischen aber für uns Neues zu entdecken gibt. Ich glaube die wenigsten würden ‘Reisen mit Kindern’ so umsetzen und leben. Auch ich hatte meinen Sohn bei allen Reisen ob Ägypten, Afrika immer mit dabei.
    Aber ich finde es sehr schön, da Dein Zwerg ja eben dadurch soviel Neues und Wichtiges für sein leben kennenlernt. Mehr wie schön …
    LG sendet Dir Dani

  3. Phil

    Wow, interessanter Reisebericht über Kumkapi mit sehr spannendem Ende. Ich finde deine Herangehensweise an Instanbul generell echt total super: Einfach mal die Sights beiseite legen und sich stattdessen treiben lassen und die Umgebung genießen. Auch mir fällt das in diversen Ländern mit seltsamster Telefon-Strom-Elektro-Freiluft-Verdrahtung manchmal schwer, aber mei. Irgendwas ist ja immer.

    Das mit der Orientierung ist immer so eine Sache. Es gibt Apps, mit denen du zum Beispiel dein parkendes Auto bzw. deinen Ausgangspunkt wiederfinden kannst: Sie zeigen dir einfach den Weg an, den du bisher gelaufen bist, so dass im allerschlimmsten Fall einfach nur den kompletten bisherigen Weg wieder zurück stapfen musst. Funktioniert auch offline. So hat man immer eine Backup-Lösung falls man mal wirklich „Lost“ ist.

    1. Heike

      @Phil – Vielen Dank. Mir liegt das richtige Sightseeing nicht. Das habe ich irgendwie alles hinter mir. Ich finde das interessant und so, und muss sicherlich auch einmal dran vorbeilaufen, aber das reicht mir. Mich zieht es einfach mehr in den Alltag einer Stadt. Das mit einer App zu lösen ist sicherlich eine Idee, allerdings hatte ich – und das kommt verstärkend hinzu – an keinem der Tage tagsüber Internetzugang. Ich habe klar im Vorfeld versäumt, nach einer Datasim zu recherchieren, vor Ort scheiterte ich an meinem türkisch. 😉 Cafés und kleine Restaurants haben natürlich eher kein free Wifi und so ging tagsüber fast nichts. Ich musste mein Handy auch noch sie so wenig nachladen wie in Istanbul. Hehe. 😉

  4. Jennifer

    Wow, ein toller Bericht! Ich war richtig gefesselt und konnte mir richtig gut vorstellen, wie ihr durch die Straßen flaniert seid. Ich hätte nie gedacht, dass Istanbul so schöne Flecken hat 🙂

    Mit was für einer Kamera fotografiert ihr? „Eine kleine Nikon“ habe ich schon rausgefunden, aber was für eine?

    Danke!

    1. Heike

      @Jennifer – ui. Danke für dein Feedback! Die kleine Nikon bezieht sich auf Tims Kamera, mit der er umherzieht. Das genaue Modell sehe ich gleich nach. Ich fotografiere wenn ich mit den Kindern unterwegs bin mit einer Nikon D 7000 und meist nur mit der Festbrennweite 35mm. Die baumelt dann immer an mir und ist stets einsatzbereit 😉

  5. Tanja

    Ein toller, spannender Reisebericht!
    Danke dafür!
    Mir ist ähnliches in Südafrika passiert, aber ohne Kind.
    Sightseeing ist für mich an unbekannten Orten schon interessant. Wesentlich spannender ist es für mich allerdings das echte Leben an fremden Orten kennenzulernen.
    Freue mich auf weitere Artikel.

  6. bycan

    Hallo Heike,

    dir ist ein wirklich spannender und lebendiger Bericht gelungen, von den Fotos ganz zu schweigen. Ich dachte nur immer die ganze Zeit „die Fussball spielenden Kinder! So schön! Die Katzen! so schön!“ und irgendwann zur Mitte deines Textes habe ich mich ziemlich dämlich gefühlt, weil es eigentlich banale Dinge sind, die man nicht „so schön!“ finden kann. Aber es sind eben kleine Bausteine die in Ihrer Gesamtheit den ganz eigenen Charme einer Location ausmachen und sich kaum in Text und Bild einfangen lassen. Da fehlt ja der Geruch! Und das Geräusch des Meeres! Und die salzige Luft! Und die plärrende fürchterliche Türk-Pop-Musik aus den Läden!
    Aber wer mit der Kamera und dem Stift umgehen kann so wie du, der schafft es eben trotzdem das zu vermitteln, was ein anderer an diesem Ort fühlen würde.

    1. Heike

      @bycan – Du fühltest dich dämlich, weil ich mich unwohl fühlte obwohl eigentlich alles sehr schön war? Ja, vielleicht hast du recht. Türk Pop habe ich eigentlich nicht gehört, und vielleicht liegt es einfach daran, dass ich keinen Zugang zur Sprache habe. Aber von meinen Plänen habe ich dir erzählt, ich will ein wenig näher ran…

  7. bycan

    @Heike – Nein, das war ein Missverständnis: Ich fühle mich dämlich wenn ich anderen z.B. davon erzähle, wie toll die Gräuschkulisse ist, wenn der Obsthändler „Domateeeeees“ schreit und mit seinem Holzkarren durch die Straßen schreitet. Denn wenn ich so kleine Details den Leuten beschreibe, können Sie nichts damit anfangen und sehen mich an als ob ich von einem anderen Planeten wäre. Man muss es selbst erlebt haben um mit diesen Eindrucken etwas anfangen zu können.
    So schwelgen dann Istanbulkenner gemeinsam in Erinnerungen wenn man sich solche Feinheiten erzählt und auch du triffst bei mir mit deinen Darstellungen genau diesen Nerv. Das wollte ich zum Ausdruck bringen. Den normalen Touristen entgehen diese Dinge weil die im klimatisierten Bus von Moschee zu Moschee pilgern.

    Unwohl hast du dich übrigens zu Recht gefühlt :))

    1. Heike

      @Sophie – Ja, das war irgendwie schräg. Aber hey, sie verdienen ein wenige Geld damit und es scheint eine begehrte Beschäftigung zu sein an einem Sonntag…

  8. Ute

    Sehr authentische Bilder! Leaving the comfort zone, fällt mir da auf Anhieb ein. Freue mich immer, wenn man virtuell mal die unbekanntere Seite einer Stadt kennen lernt!

  9. Nachts wenn alles schläft – auf dem Fischmarkt in Istanbul » Köln Format

    […] Gut eine halbe Stunde dauerte unsere Fahrt durch die Stadt am Bosporus. Der Audi A1 in dem ich hinten sitze, muss mittlerweile offenbar ganz ohne Federung auskommen. So bin ich hellwach als wir Kumkapi erreichten. Erst jetzt wird mir klar, dass der Fischmarkt sich an genau jenem Ort befindet, der mich auf meiner letzten Istanbulreise so begeistert hatte: Was von den heißen Nächten bleibt – ein Streifzug durch Kumkapi am Marmarameer bei Tag. […]

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